Für eine Versachlichung der Flüchtlingsdebatte

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Für eine Versachlichung der Flüchtlingsdebatte

Die Zahlen sind für viele beunruhigend: Die Zahl der Asylanträge wird sich gegenüber dem Vorjahr in diesem Jahr mehr als verdoppeln (bisher 234.000 Erstanträge 2023 gegenüber 135.000 im Vorjahr). Hinzu kommen noch 1,1 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die hier einen Sonderstatus haben und schon hier sind.

Kommunen berichten von zunehmenden Problemen bei der Integration, insbesondere bei der Zuweisung von Wohnungen. Probleme gibt es auch an den Schulen, wenn zu viele nicht oder schlecht deutsch sprechende Kinder zur gleichen Zeit in den Unterricht integriert werden müssen.

Diese Entwicklungen kann man nicht einfach ignorieren oder Lösungen vorschlagen, die den Zustrom von AusländerInnen verstärken würden, wie sie etwa im EU-Programmentwurf des Parteivorstands der LINKEN zu lesen sind, wo es heißt: „Menschen haben ein Recht auf Bewegungsfreiheit und ein Recht auf die Wahl ihres Wohnortes“ und von „Aufhebung des Visumzwangs für Schutzsuchende“ die Rede ist, Flüchtlinge kommen ja bis auf ganz wenige Ausnahmen so wie so ohne Visum ins Land. Wenn also von Aufhebung des Visumzwangs die Rede ist, dann kann das ja nur bedeuten, dass jede Person, die sich selbst als schutzsuchend bezeichnet, einreisen kann, ohne die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung oder eine Anerkennung als subsidiär Schutz suchende Person erfüllen zu müssen.

Solche Lösungsvorschläge wirken in der gegenwärtigen Diskussion als völlig neben der Debatte stehend. Der Zustrom von MigrantInnen in dem bisherigem Umfang liegt zwar immer noch deutlich unter den Zahlen von 2015 und 2016. Damals kamen mehr als drei mal so viele, aber eine Position „offene Grenzen für alle“ würde die Zahlen wieder auf ein Niveau bringen, das von der Mehrheit der Gesellschaft nicht hingenommen wird. Migrationsprozesse hat es in der Geschichte immer gegeben, sie sind auch nicht generell abzulehnen. Wenn sie aber in Brüchen verlaufen, gibt es Probleme.

Flüchtlinge, die die Grenze nach Deutschland passieren, werden als „illegal“ Einreisende bezeichnet. Das gibt die Rechtslage aber nur verkürzt wieder. Illegal sind sie, weil sie über kein Visum verfügen, die Einreise ist aber nach der Genfer Flüchtlingskonvention trotzdem erlaubt. Deshalb wird die illegale Einreise nach Deutschland nach dem Aufenthaltsgesetz auch nicht bestraft. In § 95 Abs. 5 heißt es: „Artikel 31 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge bleibt unberührt.“ Und dort steht:

„Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben

oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.“

Illegal sind deshalb sog. „push-backs“, also gewaltsame Aktionen von Grenzbehörden, die verhindern sollen, dass überhaupt ein Asylantrag gestellt werden kann.

Die von Kanzler Scholz aktuell vorgestellte Lösung :„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, wird sich als Illusion erweisen. In diesem Jahr wurden bislang 12.000 Menschen abgeschoben. Dem stehen 255.000 Menschen gegenüber, die eigentlich ausreisepflichtig sind, die aber gar nicht abgeschoben werden können. Bis Ende September werden hierzu vom Bundesinnenministerium 205.000 Duldungen angegeben. Duldungen werden erteilt, wenn Abschiebungen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gar nicht vorgenommen werden können. Das sind nicht nur gesundheitliche Gründe. In einige Länder ( z.B. Irak, Syrien) kann wegen der dortigen Verhältnisse ohnehin nicht abgeschoben werden. Es gibt dazu Beschlüsse der Bundesinnenministerkonferenz. Bei anderen Ländern scheitern die Abschiebungen, weil abgelehnte Asylbewerber in der Regel gar keine gültigen Pässe der Heimatländer in Besitz haben. Die Ankündigung von Kanzler Scholz hierzu im Spiegel Nr. 43/23 man wolle mit vielen Staaten Vereinbarungen schließen, „damit sie ihre Bürger unbürokratisch zurücknehmen“ sind sehr vage, im Übrigen auch kaum durchsetzbar, weil kein Land Flüchtlinge aufnehmen wird, bevor nicht deren Staatsangehörigkeit eindeutig vorher als eigene festgestellt worden ist.

Das, was als große Abschiebungsoffensive angekündigt wird, ist nichts anderes als eine Propagandablase, weil in nennenswertem Umfang eine Steigerung der bereits durchgeführten Abschiebungen faktisch überhaupt nicht umsetzbar ist.

Propagandistische Scheinlösungen sind auch die sog „festen Grenzkontrollen“. Wer sich aus Syrien auf den langen Weg bis an die deutschen Grenzen gemacht hat, wird doch nicht einfach umkehren, nur weil an einer Durchgangsstraße ein geschlossener Schlagbaum steht. Da gibt es genügend Umwege, um die Grenze zu passieren. Besonders absurd ist es, wenn jetzt verkündet wurde, dass an der Grenze zur Schweiz feste Grenzkontrollen errichtet worden sind. Wenn ein Flüchtling, der in Basel angekommen ist, dies sieht, fährt er eben über die offene Grenze nach Frankreich und von dort über die offene Grenze nach Deutschland.

Rechtlich unzulässig sind auch sog. „Obergrenzen“. Was sollte denn mit dem Flüchtling Nr. 2001 geschehen, wenn die Obergrenze 2.000 beträgt? Grundrechte und Rechte nach der Genfer Flüchtlingskonvention sind nicht an irgend welche Zahlen gebunden, von der an ein solches Recht einfach abgeschafft wäre. In Art 19 Abs. 2 des Grundgesetzes steht:

In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Es darf also auch nicht ab einer bestimmten Zahl der Inanspruchnahme einfach abgeschafft werden.

Eine weitere Scheinlösung hat jetzt Finanzminister Lindner präsentiert: Danach soll Asylbewerbern die Überweisung von Geld ins Heimatland verboten werden. Dieser Vorschlag ausgerechnet von einer „Freiheitspartei“ ist ebenso erstaunlich wie ungeeignet. Rechtlich wäre dies höchst problematisch und im Übrigen auch leicht zu umgehen. Und: wer sollte das kontrollieren? Wenn man Kapitalverkehrskontrollen anspricht, bei denen ganz andere Summen transferiert werden, ist das Geschrei der FDP mit Sicherheit am Lautesten. Da käme sofort der Bürokratie-Einwand, der bei den bescheidenen Mitteln, die ein Asylbewerber von den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abzweigen kann, um die Familie im Ausland zu unterstützen, natürlich nicht ins Gespräch kommt.

Um die Zahl der Asylbewerber zu reduzieren, werden auch immer wieder Einschränkungen bei den Sozialleistungen genannt. So sollen Wertgutscheine oder Sachleistungen statt Bargeldzahlungen gewährt werden, Diese Maßnahmen sind aber jetzt schon nach dem Asylbewerberleistungsgesetz möglich. Sie wurden von den Ländern jedoch nicht umgesetzt, weil der Verwaltungsaufwand zu hoch ist. Dabei ist zu beachten, dass Grenzen auch durch eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts gesetzt worden sind, Asylbewerbern muss immer ein an den Maßstäben der Menschenwürde gemessenes Existenzminimum gewährt bleiben. Dabei sind die Leistungssätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz jetzt schon deutlich niedriger als das sog. „ Bürgergeld“, früher „Hartz IV“ genannt.

Der CDU-Vorsitzende März hat als Beispiel für eine gelungene Begrenzung der Asylbewerberzahl Dänemark genannt. Die sozialdemokratische Regierung verfolgt dort eine strenge Einwanderungspolitik. Sie setzt auf Abschreckung. Dazu gehören Maßnahmen wie das sogenannte Schmuckgesetz und der Ruanda-Plan. Seit 2016 dürfen dänische Grenzer Asylbewerbern Wertgegenstände im Wert von 10.000 Kronen (ca. 1340 Euro) abnehmen, um damit den Aufenthalt mitzufinanzieren. Nicht minder streitbar war der Plan, Asylbewerber nach Ruanda zu schicken. 2021 wurde ein Gesetz verabschiedet, das das ermöglichen sollte. Mittlerweile ist das Ziel aber in der Schublade verschwunden, weil es gar nicht umsetzbar ist.

2022 wurden in Dänemark 3562 Asylanträge gestellt, in Deutschland etwa 50 mal so viele. Dies hat Dänemark aber im Wesentlichen durch Asylbewerber abschreckende Propaganda erreicht. Die „Erfolgszahl“ dieser Politik führt ja nicht dazu, dass Asylbewerber in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, die dänische Flüchtlingspolitik führte nur dazu, dass die Flüchtlinge dann eben in ein anderes europäisches Land geflohen sind, vor allem nach Deutschland.

Dazu muss man das System des Dubliner Abkommens kennen: Dort ist geregelt, dass Asylbewerber sich nicht das Land aussuchen können, in das sie fliehen. Deshalb sind dort Zuständigkeiten geregelt. Vereinfacht wiedergegeben: In erster Linie ist das Land zuständig, in dem der Asylbewerber zuerst erfasst wurde, also seine Fingerabdrücke abgeben musste. Diese Regelung ist natürlich höchst ungerecht. Sie benachteiligt die Länder im Süden und Osten Europas, wo die meisten Flüchtlinge naturgemäß zuerst ankommen. Das hat inzwischen dazu geführt, dass Länder wie Ungarn und Italien Flüchtlinge, die dort ihre Fingerabdrücke hinterlassen haben und dann nach Deutschland weitergereist sind, einfach nicht wieder zurücknimmt, obwohl diese Länder nach dem Dubliner Abkommen eigentlich zuständig wären. Wenn es aber Asylbewerbern gelungen ist, die süd- oder osteuropäischen Länder durchquert zu haben, ohne dort erfasst zu werden, landen sie naturgemäß in Österreich oder Deutschland. Warum sollte sich ein Asylbewerber dann noch nach Dänemark begeben? Der einzige Grund könnten familiäre Bindungen zu anderen Flüchtlingen in Dänemark sein, das ist aber die Ausnahme und erklärt die niedrigen Asylbewerberzahlen. Dänemark hat seine geringe Zahl von Asylbewerbern deshalb im Wesentlichen durch propagandistische Abschreckung erreicht, aber vor allem dem Umstand, dass es geographisch aus Sicht der Fluchtbewegungen hinter Deutschland liegt. Das Modell Dänemark lässt sich schon deshalb nicht auf Deutschland übertragen.

Was bleibt? Zunächst einmal muss man sich eingestehen, dass Fluchtbewegungen aus Ländern, wo politische Verfolgung, Krieg oder Bürgerkrieg herrscht, überhaupt nicht zu verhindern seien werden und aus humanitären Gründen auch nicht verhindert werden sollten. Weiter bleibt die EU aufgefordert, ein System der Verteilung der Flüchtlinge zu finden, das die Lasten, die damit verbunden sind, gerecht verteilt. Das Dublin-Abkommen gehört in den Papierkorb. Es ist gescheitert. Schließlich ist vor allem der Bund aufgefordert, bei den durch steigende Flüchtlingszahlen zunehmend überforderten Kommunen für finanzielle Entlastungen zu sorgen.

Im Übrigen sollte sich die Politik stärker darauf konzentrieren Fluchtursachen zu beseitigen. Dies ist nicht nur eine langfristige Forderung nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung. Das betrifft auch aktuelle politische Entscheidungen. Die meisten Flüchtlinge kommen gegenwärtig aus der Ukraine und aus Syrien. Eine aktive Friedenspolitik, die auf sofortigen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen im Ukraine-Krieg setzt, würde dazu beitragen die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine deutlich zu reduzieren. Eine Beendigung der Wirtschaftssanktionen gegenüber Syrien könnte auch dort die wirtschaftliche Situation entspannen und hätte den gleichen Effekt.

Schließlich ist kein Land gehindert Arbeitsmigration zu regulieren. Wer als Asylbewerber abgelehnt worden ist und nicht freiwillig ausreist, bekommt schon jetzt nur dann eine Arbeitserlaubnis, wenn die Bundesanstalt für Arbeit zugestimmt hat und die wird nur erteilt, wenn auf dem Arbeitsmarkt ein besonderes Bedürfnis für bestimmte Berufsgruppen besteht.

Hans-Henning Adler

2023-11-27T15:17:53+00:00