Eigentlich ist es ziemlich zentralistisch, wenn eine Partei vor einer Wahl das Kurzwahlprogramm veröffentlicht, bevor das eigentliche Wahlprogramm auf einem Parteitag beschlossen wurde. Das ließe sich vertreten, wenn in dem Kurzwahlprogramm nur etwas steht, was in der Partei völlig unstrittig ist. Das ist zu 95 % auch der Fall, aber nicht an allen Stellen:
Schon im ersten Absatz steht eine Einleitung, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten kann:
Dort steht:
Deutschland ist nicht mehr, was es noch vor wenigen Jahrzehnten war: ein moderner Industriestaat, der vom Ausland beneidet wurde für seine mittelständischen Weltmarktführer und seine top ausgebildeten Fachkräfte, seine gute öffentliche Infrastruktur und Gesundheitsversorgung, seine effizienten Verwaltungen, die niedrige Kriminalität und den hohen Grad an sozialem Zusammenhalt.
Und dann weiter im vierten Absatz:
Wir müssen zurück zum erfolgreichen Deutschlandmodell des späten 20. Jahrhunderts.
Laut Psychologie sehen viele die Vergangenheit besser als sie war, um an der Gegenwart nicht zu verzweifeln. Untersuchungen der amerikanischen Psychologen Adam Mastroianni und Daniel Gilbert, die 2023 in der Zeitschrift „Nature“ veröffentlicht wurden, zeigen, dass wir in Bezug auf unsere Vergangenheit voreingenommen sind. Wir erinnern uns besser an positive und vergessen eher die negativen Ereignisse. So eine verklärende Sicht auf die Vergangenheit wird auch „Retromanie“ genannt.
Deutschland hatte tatsächlich vor wenigen Jahrzehnten keinen hohen Grad an sozialem Zusammenhalt und war auch kein „erfolgreiches Deutschlandmodell des späten 20.Jahrhunderts“. Deutschland hatte 1997 eine Arbeitslosigkeit von 12,7 %. In Ostdeutschland gab es nach dem Zusammenbruch der Industrie auf Grund der vorzeitigen Währungsunion 1998 noch 1,5 Millionen Erwerbslose. In den 80er und 90er Jahren fand unter Helmut Kohl eine Offensive des Neoliberalismus statt mit Privatisierungen in vielen Bereichen der Daseinsvorsorge, Rentenkürzungen und Einschnitten im Leistungsspektrum des Gesundheitssystems. Mit den Hartz-Gesetzen wurde Anfang dann des 20. Jahrhunderts ein riesiger Niedriglohnsektor eingeführt, der vielleicht vom Ausland beneidet wurde, allerdings nur von den dort herrschenden Eliten. Die Gesundheitsversorgung war in dem genannten Zeitraum auch nicht besser. Die Zwei-Klassen-Medizin gab es damals auch schon und die Kriminalität war auch nicht niedriger. Aus den amtlichen Kriminalstatistiken geht eindeutig hervor, dass die Kriminalitätskurve in den letzten Jahrzehnten etwa gleich geblieben ist. Es gab einen kleinen Knick nach unten in der Corona-Zeit und einen kleinen Knick nach oben in der Zeit danach zurück auf das Ausgangsniveau. Die öffentliche Infrastruktur war sicherlich schlechter. Scharf zu kritisieren ist natürlich, dass heute notwendige Instandhaltungen bei der Bahn, bei Brücken und Straßen nicht ausreichend vorgenommen werden.
Und dann steht im Kurzwahlprogramm im Kapitel über die Migrationspolitik:
Ab sofort sollte der Grundsatz gelten: Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, hat kein Recht auf Aufenthalt. Wer kein Recht auf Aufenthalt hat, hat keinen Anspruch auf ein Asylverfahren und auch keinen Anspruch auf soziale Leistungen.
Natürlich muss Migration auf ein verträgliches Maß reduziert werden, aber ganz so einfach ist es nicht: Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, hat nach dem Dubliner Abkommen zunächst einen Anspruch darauf, dass von den deutschen Stellen geprüft wird, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist, das muss nicht der Staat sein, der an Deutschland angrenzt. Wenn z.B. Kroatien zuständig ist, weil der Flüchtling dort zuerst seine Fingerabdrücke auf dem Fluchtweg nach Deutschland hinterlassen hat, erhält er einen Bescheid, wonach sein Asylantrag in Deutschland unzulässig ist. Dagegen kann er innerhalb einer Woche klagen. Bestätigt dann das Verwaltungsgericht die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, muss der Asylbewerber nach Kroatien ausreisen. Wenn die Abschiebung innerhalb von sechs Monaten von den deutschen Behörden nicht umgesetzt wird, was sehr häufig passiert, entsteht eine sekundäre Zuständigkeit der deutschen Stellen für das Asylverfahren. Bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Ausreise hat der Flüchtling einen Anspruch auf Sozialleistungen, die zwar deutlich abgesenkt sind, aber das Existenzminimum garantieren. Das folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Grundsatz der Menschenwürde (Art. 1 des Grundgesetzes).
Diese Verfahrensabläufe ergeben sich aus europarechtlichen Verpflichtungen, die die Bundesrepublik eingegangen und aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der Deutschland beigetreten ist.
Was man an diesen Verfahrensabläufen kritisieren kann, ist die Dauer. Das haben die deutschen Stellen in der Hand, der Bund, der mehr Personal beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einstellen müsste, und die Länder, die dafür verantwortlich sind, dass gegenwärtig die Verwaltungsgerichte überlastet sind und die Verfahren dort bis zu drei Jahren dauern.
Und dann steht im gleichen Kapitel noch der Satz:
Die durch Nichtdeutsche verübten Straftaten steigen überproportional…
Richtig daran ist, dass die Kriminalität bei Flüchtlingen höher ist als bei Deutschen insgesamt. Das liegt aber daran, dass Flüchtlinge meist männlich und jung sind. Vergleicht man sie mit allen Deutschen, entsteht schon ein schiefes Bild, weil Frauen und ältere Menschen statistisch weniger Straftaten begehen. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Kriminalität spielt auch die Frage, in wie weit der Nichtdeutsche sozial integriert ist. Wer nicht arbeiten darf und wenig Geld hat, neigt natürlich schneller dazu, Straftaten zu begehen als derjenige, der in geordneten Verhältnissen lebt und zumindest über ein bescheidenes Einkommen verfügen kann. Da es ja richtig ist, dass Asylbewerber, über deren Asylanspruch noch gar nicht entschieden wurde, nicht sofort eine Arbeitserlaubnis bekommen können, weil das einen falschen Anreiz schaffen würde auch ohne trifige Gründe der Verfolgung oder der Kriegsflucht nach Deutschland zu kommen, ist letztlich auch hier zur Vermeidung sozial abweichendem Verhaltens die Verfahrensdauer entscheidend.
Das Kurzwahlprogramm, das viele Fragen durchaus zutreffend auf den Punkt bringt, sollte deshalb an einigen Stellen dringend nachgebessert werden.
Hans-Henning Adler
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