1. Auf den ersten Blick erscheint das Wahlergebnis eine deutliche Rechtsverschiebung des politischen Parteienspektrums auszumachen. Dies gilt aber nur, wenn man die Europawahl 2015 als Vergleichszahl heranzieht. Vergleicht man die Zahlen mit der Bundestagswahl 2017 sieht das Bild anders aus. 2017 erzielten die Parteien, die ich mal als rechten Block zusammenfassen will (CDU,CSU FDP und AFD), einen Stimmenanteil von 56,3 %. Die Parteien die linken Blocks (SPD, Grüne und LINKE) erzielten zusammen 38,6 %. Bildet man diese Summen auch bei der EU-Wahl, so haben sich die beiden Blöcke deutlich angenähert: Der so gerechnete rechte Block erzielte 45,3 % und der linke Block 41,8% . Zählt man beim linken Block noch die vielen Splitterparteien hinzu, die eher dem linken Parteienspektrum zuzurechnen sind und bei einer Wahl mit 5%-Hürde keine Chance hätten, das sind nach meiner Zählweise zusammen mindestens 6,5% , dann ergibt sich eine linke Mehrheit von 48,3 % des linken Parteienspektrums.
Noch deutlicher wird dies, wenn man die Ergebnisse in Niedersachsen zusammenzählt:
Bei der Bundestagswahl erzielten CDU,FDP und AFD zusammen 53,3 %. SPD; Grüne und Linke kamen zusammen auf 43,1 %. Bei der Europawahl kamen die Parteien des rechten Blocks auf 42,8%, die des linken Blocks auf 47,3 %, rechnet man die linken Splitterparteien dazu, die bei einer Wahl mit Sperrklausel keine Chance hätten, sogar deutlich über 50 %.
Bei dieser Betrachtung bleibt natürlich eine Frage unbeantwortet: Warum konnte die LINKE, die gegenüber einer Koalition von CDU/CSU und SPD auf Bundesebene schließlich in der Opposition steht, nicht von dem dramatischen Stimmenverlust der SPD wenigstens teilweise profitieren?
Ein Europawahlkampf, der die Botschaft rübergebracht hat, man müsse Europa nur etwas sozialer machen, was die SPD so ähnlich kommuniziert hatte, konnte offensichtlich nicht überzeugen. Das Thema Klimawandel wurde von den Wählern den Grünen zugeordnet und anscheinend nicht mit den Wirkungen des kapitalistischen Profitprinzips in Zusammenhang gebracht. Das Alleinstellungsmerkmal der LINKEN als Friedenspartei spielte im Wahlkampf keine Rolle. Die Kritik der LINKEN an der ungerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen wurde wohlwollend zur Kenntnis genommen, stand aber nicht so sehr im Mittelpunkt des Interesses, dass es für die Stimmabgabe entscheidend war. Der Rückzug von Sahra Wagenknecht und die unsäglichen Angriffe aus der eigenen Partei gegen sie haben sich sicherlich auch negativ ausgewirkt.
Alle Wahlforscher bestätigen: Der hohe Stimmenanteil der Grünen bei der EU-Wahl sind keine StammwählerInnen. Sie können bei anderen Wahlen auch durchaus anders wählen, sie würden aber wahrscheinlich nicht zu großen Teilen in den rechten Wählerblock wechseln. Für zukünftige Wahlen bedeutet dies: Der dieses mal erzielte hohe Stimmenanteil der Grünen wird eine umkämpfte Stimmenmasse sein. Alles ist offen. DIE LINKE steht vor der Aufgabe sich stärker zu profilieren. Die konturenlose Wahlstrategie der von der Parteispitze beauftragten Werbeagentur sollte eine Lehre sein, wie man es gerade nicht machen sollte.
2. Zweite Schlussfolgerung aus dem Wahlergebnis: Ein außerparlamentarische Bewegung, egal ob auf der Straße oder im Netz, kann ein Wahlergebnis sichtbar beeinflussen. Dass die Grünen von der Klimaschutzbewegung „Frideys for Future“ oder dem Blog von rezo „Die Zerstörung der CDU“ offenbar allein profitieren konnten, ist sicherlich ungerecht, wenn man bedenkt wie systemkritisch sich Greta Thunberg äußert („change the system itself“) und wie grundlegend die Kritik von rezo zur Verteilungsfrage ist, ändert aber nichts an dem Zusammenhang zwischen außerparlamentarischen Initiativen und Bewusstseinsbildung und letztlich auch Wahlverhalten. Diesen Zusammenhang müssen wir stärker in den Blick nehmen, uns also stärker außerparlamentarisch engagieren.
3. Das Bremer Ergebnis der Bürgerschaftswahl zeigt zugleich: 11,3 % waren Stimmen für aktive Veränderung und lösungsorientierte Politikangebote. Der Abstand zu den Grünen (17,4%) war hier auch nicht so groß, was zeigt, dass die Wählerinnen und Wähler weniger stark an eine Partei gebunden sind und bei Europa- und Landtagswahlen auch unterschiedlich abstimmen können, selbst wenn sie am gleichen Tag stattfinden. Katja Kipping hat durchaus Recht, wenn sie schreibt: „In Bremen hat die LINKE von Anfang an klargemacht, dass sie bereit ist, ihr gutes Programm auch in einer Regierung umzusetzen…Ich ziehe daraus folgende Schlussfolgerung: Wir müssen jetzt ernsthaft um linke Mehrheiten kämpfen.“ Nach dem Ergebnis der EU-Wahl ist das durchaus möglich. Wir müssen allerdings höllisch aufpassen, dass wir innerhalb einer linken Mehrheit unsere Eigenständigkeit und unsere sozialistische Grundausrichtung nicht verwässern lassen. In einem SPD-Grünen-Linken Wahlbündnis, das sich ja jetzt abzeichnet, muss die linke Handschrift erkennbar sein.
Hans-Henning Adler
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