Impfstoffmangel – systembedingt, aber überwindbar

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Impfstoffmangel – systembedingt, aber überwindbar

 

Gesundheitsminister Spahn gerät zunehmend in die Kritik. Ein schlechtes Management bei der Beschaffung der Impfstoffe gegen Corona und die Missorganisation bei der Verteilung sind aber nur das Eine. Weitergehend ist die Kritik zu der Frage, warum nicht insgesamt mehr Impfstoff zur Verfügung steht.

Das Impfchaos ließe sich beenden, wenn die Bundesregierung nur die bestehenden Gesetze anwenden würde. Gegenwärtig werden nicht ausreichend Impfstoffe gegen die Corona-Erkrankung hergestellt. Das kann eine einzelne Firma wie Biontech wahrscheinlich auch nicht kurzfristig in so großer Zahl leisten, wie jetzt notwendig ist. Aber es gibt in Deutschland große Pharma-Firmen, die produzieren könnten, wenn sie dürften. Was dagegen steht, ist das kapitalistische Patentrecht, das dem Inhaber eines Patents das Recht gibt, andere von dem Wissen um seine Erfindung auszuschließen, aber § 5 das Infektionsschutzgesetzes in Verbindung mit dem § 13 des Patentgesetzes lassen in Fällen „einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ eine Ausnahme zu. Nach diesen Vorschriften kann das Patentrecht eingeschränkt werden, wenn „die Erfindung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll“ – wie es im Patentgesetz steht. Biotech könnte also durch die Bundesregierung verpflichtet werden ihr Know How an andere Pharma-Unternehmen weiterzugeben, die dann produzieren könnten, natürlich gegen eine Entschädigung. Warum ist das nicht schon längst passiert?

Seit Monaten weigern sich Länder wie Deutschland, USA und Großbritannien, die Patente für den Corona-Impfstoff auszusetzen. Der UN-Generalsekretär nennt diesen Impfnationalismus eine „Verweigerung von Menschenrechten“. Und damit hat er Recht, denn nicht nur ein Polizeiknüppel in einer Diktatur ist eine Menschenrechtsverletzung, sondern auch ein aus Profit-Interessen vorenthaltender Impfstoff ist eine Menschenrechtsverletzung (Katja Kipping auf dem 7. Parteitag der Linken am 27.02.21).

Mit einer Lizenzfreigabe würde das durch eigene Leistung erworbene Patentrecht, welches Ausfluss des Grundrechts auf privates Eigentum ist, natürlich eingeschränkt. Dass aber Grundrechte eingeschränkt werden, kommt ja häufiger vor. In Corona-Zeiten haben wir uns ja schon fast daran gewöhnt. Warum wird deshalb die Fa. Biotech also nicht auch aufgefordert, natürlich gegen eine leistungsgerechte Entschädigung, ihr Wissen allen Firmen zur Verfügung zu stellen, die in der Lage wären, den neuen Impfstoff zu produzieren, wenn sie nur die notwendigen Informationen und Daten zur Verfügung hätten?

Diese Frage stellt sich nicht nur national. Sie stellt sich auch weltweit. Schließlich haben Macron und Merkel den Corona-Impfstoff schon mal als „globales öffentliches Gut“ bezeichnet. Warum wird entsprechend dieser Maximen nicht gehandelt? Die Regierungen von Süd-Afrika und Indien haben ja schon lange gefordert, das Patentrecht so aufzuheben, dass der Impfstoff auch in allen Ländern produziert werden kann.

Die genannten Regierungen hatten – unterstützt durch zahlreiche weitere Regierungen – an den Rat für handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Council) der Welthandelsorganisation den Antrag gestellt, auf einige der Verpflichtungen aus dem TRIPS-Abkommen zum Schutz und zur Durchsetzung von Patenten, Urheberrechten und verwandten Schutzrechten, gewerblichen Mustern (industrial designs) und nicht offengelegter Informationen für Medikamente, Impfstoffe, Diagnostika und Schutzmaterialien zur Bekämpfung der Corona-Pandemie so lange zu verzichten, wie diese andauert. Diese Forderungen werden u. a. auch von UNAIDS, Ärzten ohne Grenzen und renommierten Ökonominnen und Ökonomen unterstützt. Sie konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Auch die Bundesregierung war dagegen. Der Versuch der Fraktion DIE Linke dies im Bundestag zu thematisieren (Debatte am 14.01.2021 – vgl. BT-Drucksache 19/25787) fand bei den andern Fraktionen kein Gehör.

Der Patent-Schutz verhindert immer noch, dass medizinisches Wissen über geeignete Methoden der Krankheitsbekämpfung allgemein bekannt wird. Gerade in diesem Konflikt spiegelt sich aktuell der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignungsform, d.h. den kapitalistischen Produktionsverhältnissen mit seinem Schutz des materiellen und geistigem Eigentums, wider.

Die Eigentumsfrage ist das Entscheidende, auch beim „geistigen Eigentum“, Was Eigentum ist, kann man im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) von 1900 nachlesen. Sein § 903 S. 1 gilt bis heute:

Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“

Gerade das Recht andere vom Wissen um den Impfstoff auszuschließen, ist es, was die Produktion im eigentlich notwendigen Umfang verhindert.

Der Patent- oder der Urheberschutz wird mit der Begründung verteidigt, die Ausschließung anderer von diesem Wissen würde gerade die notwendigen Innovationsanreize bieten, neue Erfindungen hervorrufen, die gerade deshalb gemacht würden, weil die privaten Erfinder die Früchte ihrer Arbeit nicht mit anderen teilen müssen.

Der Gedanke ist auf den ersten Blick nachvollziehbar, übersieht aber, dass neues Wissen nur durch die Zusammenarbeit mehrerer Menschen entsteht, was einen offenen Zugang zu bisherigem Wissen erfordert (Sabine Nuss: Keine Enteignung ist auch keine Lösung Berlin 2019 S. 41).

In der heutigen Zeit entstehen neue geistige Produkte regelmäßig als gesellschaftlicher Prozess. Die geistigen Schöpfer sind durch schulische und hochschulische Vorleistungen der Gesellschaft herangebildet worden. Ihre Erfindungen und Schöpfungen sind das Ergebnis eines umfangreichen Wissensaustausches und der Kommunikation der verschiedenen Akteure.

Im gegenwärtigen Patentrecht wird das Recht des Erfinders zwanzig Jahre lang geschützt. Das bedeutet, dass er zwanzig Jahre lang sein durch eine Erfindung erworbenes Wissen geheim halten darf und die Verwertung dieses Wissens während dieser Zeit ausschließlich ihm allein zusteht.

Mariana Mazzucato zitiert den „Economist“ , der am am 08.08.2015 geschrieben hatte: „Patente sollen für die Verbreitung von Wissen sorgen, indem sie die Inhaber dazu verpflichten, ihre Neuerung für alle sichtbar darzulegen….“ (Mariana Mazzucato: Wie kommt der Wert in die Welt? Frankfurt 2018 S. 232f.S. 271)

Der Blick auf diese unglaublich langen Fristen für den Schutz geistigen Eigentums zeigt, dass der Gesetzgeber hier ein Menschenbild des Erfinders oder Schöpfers eines Werks vor Augen hat, das früheren Jahrhunderten entspricht. Die darin liegende geistige Leistung wird einem Individuum zugerechnet, das sich auf eine einsame Insel zurückgezogen und durch den freien Gang seiner Ideen ein neues Produkt geschaffen hat.

Deshalb ist es dringend geboten, die Schutzfristen des Patentrechts drastisch zu verkürzen und zugleich begrenzte Freigaben – gegen leistungsgerechte Entschädigung – zu ermöglichen, um so einen zeitgemäßen und gerechten Interessenausgleich zwischen der Honorierung der individuellen Leistung und den Bedürfnissen der Gesellschaft herzustellen.

Eine Lösung dieser Probleme kann nicht in der Abschaffung jeglichen Patentschutzes liegen, wie ja auch nicht die Abschaffung des Privateigentums an körperlichen Gegenständen eine allgemein gültige Lösung ist. Aber eine stärkere Sozialbindung des Patentrechts würde den Anreiz, neue Erfindungen und Innovationen hervorzubringen, nicht zerstören, wenn gleichzeitig auch Regelungen durchgesetzt werden, wonach dieses neu entstandene Wissen unter bestimmten Bedingungen oder nach einer gewissen Zeit Allgemeingut werden muss.

Aus diesem Befund entwickelt Mariana Mazzucato die Forderung: „Wir sollten Patente und Urheberrechte nicht als `Rechte` (Recht am geistigen Eigentum) verstehen, sondern vielmehr als Werkzeug, mit dem sich ein Anreiz zur Innovation in den Sektoren schaffen lässt, in denen sie relevant sind – , aber eben so, dass auch der öffentliche Sektor seinen Gewinn daraus zieht. Die Preise für Pharmazeutika könnten´fairer´ werden, den kollektiven Beitrag verschiedenster Akteure widerspiegeln und das Gesundheitssystem nachhaltiger gestalten.“ Sie fordert eine „Sharing- Economy“, in der die Beiträge der Arbeitnehmer an der Wertschöpfung respektiert werden und führt weiter aus: „Acht-Stunden-Tag, Wochenende, Feiertage, Krankengeld, alles, was die Arbeiterbewegung und Gewerkschaften geschaffen haben, waren nicht weniger wichtige Innovationen als Antibiotika, Mikrochip und Internet“ (Mazzucato S.295f.).

Der Begriff „Sharing-Economy“, den Mazzucato hier in der Kritik des gegenwärtigen Patentrechts verwendet, zeigt die Richtung. „Sharing-Economy“ kennen wir vom Car-Sharing. Es meint das Teilen von Informationen und Wissen und das systematische Ausleihen von Gegenständen, Räumen und Flächen. Es bedeutet aber auch, dass die an diesem Prozess beteiligten Akteure ihre Verfügungsmacht aufteilen müssen (Hans-Henning Adler: Kapital-Macht wirksam bändigen S. 93).

Die Gesetze des Kapitalismus kosten Menschenleben. Das wird einmal mehr in der Corona-Krise deutlich, weil die Pharma-Industrie privatwirtschaftlich organisiert ist und aus der entstandenen Notlage der Menschheit optimalen Profit schlagen will, allen voran das deutsche Unternehmen Biontech : Wie die SZ am 19.02.21 berichtet hat, hatte Biontech im Juni 2020 in den Verhandlungen mit der EU-Kommission für seinen Impfstoff einen Preis von 54,08 € pro Dosis verlangt, zwanzig mal so viel wie Astra Zeneca haben wollte. Auch wegen dieser völlig überzogenen Forderung kam es zu Verzögerungen, schließlich einigten sich EU-Kommission und Pfizer/Biontech im November (!) auf 15,50 € pro Dosis.

Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig sah in dem Verhalten von Biontech „ein Profitstreben, das in der jetzigen Situation der Pandemie in keiner Weise gerechtfertigt ist.“ Diese Preisbildung hat auch mit Marktwirtschaft nichts zu tun. Preise werden hier durch Diktat gebildet. Hauptsache die Aktionäre sind zufrieden. Dabei wurde Biontech für seine Forschungsarbeit zur Entwicklung des Impfstoffs mit öffentlichen Mitteln gefördert, wie dies auch bei den anderen Pharma-Konzernen Moderna, Johnson&Johnson oder Astra Zeneca geschehen ist.

Die Verzögerung bei der Auslieferung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs haben mit den völlig maßlosen Preisforderungen zu tun. Jeder Tag der Verzögerung der Impfung hat die Pandemie verlängert und damit auch Menschenleben gekostet. Wäre die Straftat des Wuchers nicht im Versuchsstadium stecken geblieben, wäre das Ganze ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Nach § 291 des Strafgesetzbuchs sollte nämlich bestraft werden „wer die Zwangslage …eines anderen dadurch ausbeutet, dass er sich oder einem Dritten … für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen“.

Biontech-Chef Ugur Sahin ließ sich von den Medien als Star feiern. In Wirklichkeit ist sein Verhalten menschenverachtend und wirft ganz grundlegende Fragen auf: Wie kann die Pharma-Industrie so umgestaltet werden, dass der Profit als Anreiz für die Entwicklung neuer Produkte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen darf, nämlich als Belohnung für die Erfindung, nicht als zeitlich viel zu weit gefasste und maßlose Profitquelle? Das Gemeinwohl, und dazu gehört die Gesundheit der Menschen, muss hier Priorität haben.

Bei der Berichterstattung über neu entwickelte Impfstoffe zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hat es in den Medien monatelang eine eurozentristische Wahrnehmung gegeben, die teilweise auch nationalistische Züge hatte. Der Impfstoff der deutschen Firma Biontech wurde als „erster Impfstoff“ der Welt gefeiert, auf den Deutschland „stolz“ sein könne (Merkel). Der schon vorher in Russland entwickelte Impfstoff „Sputnik V“ wurde als unsicher abgetan. Später wurde er dann auch in westlichen Fachzeitschriften wie „The Lancet“ anerkannt. Dass er ganz brauchbar sein muss, wurde dann nach und nach deutlich, als sich herausstellte, dass europäische Länder wie Ungarn, Belarus und Serbien ihn längst verwenden, auch Länder wie Argentinien, Paraguay und Bolivien. Ähnlich ignorant gingen westliche Medien mit dem chinesischen Impfstoffen Sinopharm und Sinovac um, die inzwischen weltweit angewendet werden, u.a. in Iran, Ägypten, Chile, Uruguay, Serbien und zahlreichen anderen Ländern.

Eine große Hoffnung bietet Kuba: Dort gibt es einen jahrzehntelangen Vorlauf bei der Entwicklung von Impfstoffen. Die dritte und letzte Testphase des eigenen Impfstoffs Soberana 2 wurde ab März 2021 eingeleitet, die erste Impfung gegen Corona, die in Lateinamerika entwickelt wurde. Laut Ankündigungen soll die Impfung nicht nur für die eigene Bevölkerung eingesetzt werden, sondern auch Tourist*innen und armen Ländern zur Verfügung gestellt sowie exportiert werden. In der dritten Phase sollen 150 000 Menschen in Kuba und im Iran geimpft werden. Die mexikanische Regierung verhandelt zurzeit mit der kubanischen darüber, in diese dritte Phase aufgenommen zu werden. Der Impfstoff soll eine Wirksamkeit von fast 90 Prozent erreicht haben und soll auch gegen Mutationen wirken.

100 Millionen Impfdosen wollen Vicente Vérez, Direktors des Finlay-Instituts in Havanna, und sein Team produzieren, um 2021 sowohl die eigene Bevölkerung zu impfen als auch die Nachfrage aus Ländern wie Venezuela, Iran, Pakistan, Vietnam und Indien zu decken. Ob dies möglich sein wird, hängt wahrscheinlich auch davon ab, ob die Sanktionen der USA durch die Biden-Regierung aufgehoben werden. Bislang verbieten, verteuern oder verzögern diese den Import von Ausrüstung und Vorprodukten. Internationale Kooperationen wären nötig, sind aber auch schon vorbereitet. (Vorwärts 26.02.21)

Das könnte zum Hoffnungsschimmer für Länder im globalen Süden werden, denn Kuba versteht sich traditionell als medizinisch-pharmazeutischer Forschungsstandort in deren Dienst, wie es Fidel Castro einst formulierte. Dazu sagt Vicente Vérez gegenüber der argentinischen Tageszeitung Pagina: „Wir sind kein multinationaler Konzern, wo die Rendite über allem steht. Unser Ziel ist es, Gesundheit zu fördern“ (taz vom 29.01.21).

 

Hans-Henning Adler

2021-03-09T17:47:12+00:00